14 May 2005

‘Freihäfen des Geistes’: Comments from Czechowski, Drawert, Grünbein, Hensel, Mensching


Below is the questionnaire I sent on 25 November 1998 to six German poets (Volker Braun, Heinz Czechowski, Kurt Drawert, Durs Grünbein, Kerstin Hensel, and Steffen Mensching). They were all kind enough to reply. Whilst a few quotations from these replies were incorporated into my book The Poet’s Role, most are published here for the first time. I am extremely grateful to the poets for letting me have these comments, to Volker Braun for the book, to Steffen Mensching for the friendly email, and especially to Durs Grünbein for his excellent formulations… I’m sure they all had better things to do than waste their time writing to a foreign postgrad they had never heard of.

Ich arbeite an einer Dissertation über die Lyrik nach der Wende und der deutschen Wiedervereinigung, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Dichters / der Dichterin aus der ehemaligen DDR.

Ihre Gedichte bilden einen wichtigen Teil der Primärliteratur, mit der ich mich beschäftige. Deshalb wende ich mich an Sie, in der Hoffnung, Ihnen einige Fragen stellen zu dürfen, um so Ihr Werk in einen historischen Kontext stellen zu können. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Zeit nähmen, beilegenden Fragebogen auszufüllen oder mir auch andere Bemerkungen und Gedanken zum Thema mitteilen könnten.

Bereits jetzt vielen Dank fur Ihre Bemühungen und mit freundlichen Grüßen,


Ruth J. Owen
Oxford University, Faculty of Medieval and Modern Languages


1. Nahmen Sie an die Demonstrationen in Herbst 1989 teil?
2. Haben Sie damals Gedichte geschrieben, die Sie als eine Art ‘Demonstration’ dachten?
3. In welcher Hinsicht verstanden Sie die Wiedervereinigung als einen Gewinn für Sie als Dichter?
4. In welcher Hinsicht verstanden Sie die Wiedervereinigung als einen Verlust für Sie als Dichter?
5. Was sollte ein Gedicht in den neunziger Jahren ausdrücken?
6. Bekommt Ihrer Meinung nach die Lyrik in der Bundesrepublik die richtige Anerkennung?
7. Wie unterscheiden sich Ihre früheren Gedichte von Ihren jüngsten Gedichten?
8. Beurteilen Sie Ihre alten Texte (vor 1989 geschriebene) jetzt anders?


1.
Nahmen Sie an die Demonstrationen in Herbst 1989 teil?

Durs Grünbein: Ja, als Spaziergänger und neugieriger Beobachter. Am Abend des 9. Oktober 1989 (meinem Geburtstag) wurde ich dafür von Polizeikräften verfolgt und verhaftet.

Kurt Drawert: Ja.

Steffen Mensching: Während der Herbsttage 1989 war ich mit meinem Kollegen Hans-Eckardt Wenzel als Clown auf Tournee durch die DDR. Diese Auftritte, vor vollen Häusern, in angespannter Atmosphäre, immer unter Druck des Verbots, hatten durchaus demonstrativen Charakter, aber eben nicht nur.

Heinz Czechowski: Ja, in Leipzig.

Kerstin Hensel: Nein.

2.
Haben Sie damals Gedichte geschrieben, die Sie als eine Art ‘Demonstration’ dachten?

Kurt Drawert: Nicht im Sinne von Proklamation.

Steffen Mensching: Ich habe vor dem Herbst 89 Gedichte geschrieben, die eindeutig politisch eingreifen wollten, eine Tendenz hatten; während der Ereignisse schrieb ich so gut wie nichts.

Heinz Czechowski: Kaum. Aber vieles in meinem Buch Nachtspur ist eine Reaktion auf die Ereignisse vom Herbst 1989.

Durs Grünbein: Nein, niemals. Dichtung ist Selbstausdruck, die intimste Form, öffentlich zu sprechen. Wenn überhaupt, dann sind es die rebellierende Seele und ein jubilierender Körper, die hier vor ihrem Zerfall gegen den Fluß der Zeit demonstrieren.

3.
In welcher Hinsicht verstanden Sie die Wiedervereinigung als einen Gewinn für Sie als Dichter?

Kurt Drawert: In keiner.

Steffen Mensching: Die politische Wende 89 bedeutete eine Öffnung, eine Befreiung von Zwängen, Privilegien, Neurosen, Überfrachtung. Sie warf mich, also auch ‘den Dichter’, zurück in eine Normalität, die Gewinn bedeutete, neue Orientierung forderte, neue Denk- und Verhaltensweisen provozierte. Die Wiedervereinigung 1990 begriff ich viel mehr als Schlußpunkt, als Fixierung dieses offenen, ungekannten, teils anarchischen Prozesses.

Heinz Czechowski: Ich kann endlich schreiben, was ich will, ohne auf Lektoren und Zensur hören zu müssen.

Durs Grünbein: Aufhebung einer idiotischen Weltordnung. Entfernung unästhetischer Elemente auf meiner Lebenswelt (zB. Mauer, Stacheldraht, Tribünen usw.). Zugang zu allen Freihäfen des Geistes (Bibliotheken, Museen, venezianische Palazzi, Ausgrabungsstätten wie Pompeji und Pachstum.

4.
In welcher Hinsicht verstanden Sie die Wiedervereinigung als einen Verlust für Sie als Dichter?

Kurt Drawert: In keiner.

Heinz Czechowski: Ein Zeitenwechsel ist immer mit Verlusten verbunden. Mich trieb der neue Reichtum der Familie meiner ehemaligen Frau in die Fremde (Italien, Westdeutschland – Hessen und NRW). Damit war der Verlust an Lesern, Lesungen, Öffentlichkeit verbunden.

Kerstin Hensel: Dichtung, Literatur überhaupt, ist für mich nicht abhängig von politischen Ereignissen, auch wenn sie ab und zu das Schreiben thematisch tangiert.

Durs Grünbein: Wie kann ich etwas verlieren, was ich nie haben wollte?

5.
Was sollte ein Gedicht in den neunziger Jahren ausdrücken?

Kurt Drawert: Sich selbst.

Steffen Mensching: Alles.

Durs Grünbein: Dasselbe wie im Jahre 96 nach Christus, nur neu.

Kerstin Hensel: Sobald ein Gedicht etwas soll, ist's schon verfehlt.

6. Bekommt Ihrer Meinung nach die Lyrik in der Bundesrepublik die richtige Anerkennung?

Heinz Czechowski: Nein.

Kerstin Hensel: Nein. Kaum ein Verlag druckt Gedichte.

Kurt Drawert: Sie bekommt nirgendwo die richtige Anerkennung.

Steffen Mensching: Sie, die Lyrik, bekommt in der Bundesrepublik überhaupt keine Anerkennung, aber das mache ich ihr, der Bundesrepublik nicht zum Vorwurf. Ob ein Land Gedichte (Kunst überhaupt) braucht oder nicht, wird von keiner Regierung bestimmt.

Durs Grünbein: Der Zusammenhang zwischen Lyrik und Bundesrepublik ist ein temporärer. Die Lyrik wird auch diesen Staat überleben.

7.
Wie unterscheiden sich Ihre früheren Gedichte von Ihren jüngsten Gedichten?

Durs Grünbein: Durch fortschreitende Präzision und einen Zuwachs am Schmerz- und Glückserfahrungen.

Heinz Czechowski: Durch größere Offenheit.

Steffen Mensching: Möglicherweise sind die jüngeren Texte einsamer, ihre Wut abgeklärter, ihr Schmerz kälter.

8.
Beurteilen Sie Ihre alten Texte (vor 1989 geschriebene) jetzt anders?

Heinz Czechowski: Abgesehen von einigem Gedichten in meinem ersten Gedichtband Nachmittag eines Liebespaares 1967, habe ich keinen Grund, mich meiner Gedichte von vor 1989 zu schämen.

Steffen Mensching: Ich betrachte vor allem meine sehr frühen Gedichte, wenn ich sie denn selten genug betrachte, mit gewisser Verwunderung. Das warst Du? Da ich nicht daran glaube, daß Lebenswege logisch oder in vorgegebenen Bahnen verlaufen, kann ich mit meinen Naivitäten gut leben.

Kerstin Hensel: Nein. Warum sollte ich?

Kurt Drawert: Ja.

Durs Grünbein: Alles vor 1989 Geschriebene erscheint mir selbst heute als historisches Dokument.

9.
Wie beschreiben Sie Ihre Rolle als Lyriker in der DDR?

Heinz Czechowski: Lebenshilfe für meine Leser und Hörer.

Durs Grünbein: Ich habe damals keine Rolle spielen können, weil es mich offiziell gar nicht gab. Meine erste Veröffentlichung war 1988 – im Westen. Bis dahin war ich ein reines Untergrundphänomen.

Steffen Mensching: Ich war wohl ein Lyriker zwischen den Generationen. Vom Alter her den Jungen (auch jungen Wilden) zugehörig, und in vielem ihnen ähnlich (Leseerfahrungen, Rock-Musik, Weltensehnsucht) teilte ich andererseits poetisch und auch philosophisch-politisch eher die Anschauungen der Kriegskinder-Generation. In meinem Stilmittel war ich now sonderlich innovativ, eher konventionell. Modernität um jeden Preis hat mich nie interessiert; was en vogue war, betrachtete ich eher mit Skepsis. Ich begriff Dichtung – und war damit durchaus anachronistisch – stets zuerst als Versuch von Kommunikation mit besonderen Mitteln.

Kerstin Hensel: Ich spielte keine Rolle.

Kurt Drawert: Die Fragen, die Sie haben, sind derart komplex und hätten es verdient, mindestens mit einem Aufsatz beantwortet zu werden, daß ich völlig außerstande bin, sie auf eine kurze Formulierung zu bringen.

10.
Inwiefern suchten Sie eine neue Rolle nach 1989/90?

Steffen Mensching: Ich glaube, die Rolle, die man als Autor spielt, kann man sich nicht aussuchen, d.h. man kann sie auch nicht beliebig wechseln. Wenn es eine Maske ist, dann ist sie mit dem Gesicht verwachsen. Diese Rolle ist die Summe der Erfahrungen; sie ist also alles, was man hat. Ich denke, daß meine seltsame Zwischenstellung (zwischen den Generationen, Stilen, politischen Systemen), meine Position auf dem gegenwärtigen Kunstmarkt nicht befördert. Ich denke jedoch auch nicht daran, sie deshalb aufzugeben. (Ich denke jedoch auch, daß dies möglicherweise eine gelungene Selbsttäuschung sein kann.)

Heinz Czechowski: Ich suchte keine “neue” Rolle, wurde jedoch immer mehr in meinem Selbstverständnis auf mich selbst verwiesen.

Durs Grünbein: Poesie als Rollenspiel hat mich nie sonderlich interessiert. Sie hat vor allem mit Arbeit, Analyse, blitzhafter Einsicht und synästhetischer Eingebung zu tun. Rollenspiele verderben nur den idealen Beobachterzustand.

11.
Spüren Sie eine Veränderung Ihrer poetischen Sprache nach 1989/90?

Steffen Mensching: Meine Sprache veränderte sich, glaube ich, nicht. Nur die Pausen zwischen den Sätzen werden immer größer.

Heinz Czechowski: Ja. Im Zusammenhang mit Ihren anderen Fragen sehe ich mich mehr und mehr mit meinen Problemen befaßt, wobei ich nicht aufgehört habe, mich als zoon politikon zu begreifen. Deshalb ist die Sprache meiner Gedichte nach wie vor auf die Öffentlichkeit gerichtet, auch wenn mich diese weniger hört.

Kerstin Hensel: Wenn es eine Veränderung gibt, dann ist es ein Reiferwerden, aber das liegt in fortschreitenden Lebensalter begründet, nicht in veränderter politischen Situation.

Durs Grünbein: Da ist nichts zu spüren. Die Stimme tut, was sie will, ihr Eigensinn wechselt alle zwei bis drei Jahre. Sie ist der Andere, den ich mit allen Mitteln geheimdienstlich überwachen lasse.